Wie das Bundesverfassungsgericht sich selbst beschädigt

Wie das Bundesverfassungsgericht sich selbst beschädigt

Bundesverfassungsgericht
Tagesschau.de

Treffen von BVerfG und Regierung: Fehlendes Gespür

 
 
 

Erfolgloser Befangenheitsantrag im Verfahren zu Vorschriften des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes („Bundesnotbremse“)

Pressemitteilung Nr. 90/2021 vom 18. Oktober 2021 des Bundesverfassungsgerichts

Aus der Pressemitteilung:

“Die Besorgnis der Befangenheit von Präsident Harbarth ergebe sich unter anderem aus dessen Einflussnahme auf die Auswahl der bei einem Treffen der Bundesregierung mit dem Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2021 erörterten Themen…….”

“Im Übrigen würden die Zweifel an der fehlenden Unvoreingenommenheit der abgelehnten Richter durch interne Vermerke des Bundeskanzleramts an die Bundeskanzlerin bestätigt, wonach Präsident Harbarth nach Rücksprache mit Vizepräsidentin König als Thema vorgeschlagen habe „Entscheidung unter Unsicherheiten“: Welche Beurteilungsspielräume verbleiben den Gewalten bei tatsächlichen Unklarheiten? Wieviel Überprüfbarkeit verbleibt dem BVerfG? Wie kann Sicherheit gewonnen werden? Welche Evaluierungspflichten sind dabei zu berücksichtigen? Diese Themenbeschreibung habe einen offensichtlichen Bezug zu den beim Bundesverfassungsgericht anhängigen „Corona-Verfahren“.

 
legal 1st Kommentar:  
Aus Art. 20 GG ergibt sich die Gewaltenteilung in Deutschland.
Dazu sagt das Bundesverfassungsgericht selbst: „Die in Art.20 Abs.2 Satz 2 GG normierte Teilung der Gewalten ist für das Grundgesetz ein
tragendes Organisations- und Funktionsprinzip. Sie dient der gegenseitigen Kontrolle der Staatsorgane und damit der Mäßigung der Staatsherrschaft (vgl. BVerfGE 3, 225 (247); st. Rspr.). Dabei zielt sie auch darauf ab, daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen (vgl. BVerfGE 68, 1 (86).”
Natürlich gibt es eine Gewaltenteilung nicht in Reinform, und Gewaltenverschränkungen und -balancierungen sind im Rahmen der Staatsorganisation teilweise notwendig.
Aber mit den zahlreichen Verfahren zu Grundrechtseingriffen im Zusammenhang mit Coronamaßnahmen der Bundesregierung, der Länder und des Bundestages, hat das Bundesverfassungsgericht in aller Unabhängigkeit als Hüter der Verfassung dieselbe in einer Situation zu schützen, wie sie vorher noch nie existiert hat.
Grundrechtseingriffe des Staates waren eher die Regel als die Ausnahme, und ihre Verhältnismäßigkeit kann nicht mit einem “Verständigungsgespräch oder Motivforschung” in unsicheren Zeiten im Kanzleramt geklärt werden. Grundrechte sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, die nicht nur in “Schönwetterzeiten” zu gewährleisten sind.
In dieser ausgewöhnlichen Situation wäre es angezeigt gewesen, die Unabhängigkeit des Gerichts im Verhältnis zur legislativen und exekutiven Gewalt transparent zu demonstrieren, um das Vertrauen des Bürgers in den Hüter der Verfassung zu bewahren. Mit anderen Worten, politische Treffen des Gedankenaustausches hätten abgesagt werden müssen, anstelle sie auf aktuelle Themen inhaltlich zu konzentrieren.
So steht in der Pressemitteilung des Gerichts zu lesen. “Die Beteiligung von Präsident Harbarth an der Auswahl des Themas „Entscheidung unter Unsicherheiten“ vermag den Anschein seiner fehlenden Unvoreingenommenheit nicht zu begründen. Die Festlegung eines Themas für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesregierung als solche ohne inhaltliche Positionierung, wie damit rechtlich umzugehen ist, begründet grundsätzlich keinen „bösen Schein“ einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit. Das gilt auch für das hier gewählte Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“.

Wenn in diesen Tagen über den Beschluß des Verfassungsgerichts in Polen in Verbindung mit richterlicher Unabhängigkeit diskutiert wird, dann ist die Ablehnung der Befangenheit von Richtern durch den 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts ein guter Grund zum Nachdenken über die deutsche Situation.

Natürlich ist der Befangenheitsantrag gegen Präsidenten Harbarth und die Richterin Baer zurückgewiesen worden, werden viele Beobachter der gerichtlichen Wirklichkeit wissend anmerken. Aber in diesem „natürlich“ und den Zurückweisungsgründen selbst liegen die Zweifel an der Richtigkeit und der notwendigen Unabhängigkeit von Beschluß und Handelnden.

Verwiesen sei dabei auf die Änderung des Richterwahlgesetzes in Schleswig-Holstein.

Wäre dem Befangenheitsantrag stattgegeben worden, hätte dies nicht das Gericht beschädigt, sondern seine Unabhängigkeit unterstrichen. So bleibt ein schaler Geschmack zurück und die Zweifel, ob das Bundesverfassungsgericht mit der notwendigen Unabhängigkeit die größte Grundrechteherausforderung in diesem Rechtsstaat tatsächlich meistern kann.
 

 

 

 
 
 

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