Tempolimit ist eine faktenbefreite Forderung
Bei „Markus Lanz“ soll Klimaforscher Mojib Latif eigentlich nur sein Buch vorstellen. Aber er schaltet sich in eine Diskussion über das Tempolimit ein.
Vom ideologischen Allheilmittel Tempolimit oder: Weg mit dem SUV!
Hamburger Forscher Mojib Latif hat ein neues Buch über die Auswirkungen des Klimawandels geschrieben. „Wir müssen komplett umdenken“: Klima-Papst Latif über die Angst vor der Apokalypse in der MoPo vom 17.5.2022.
Optimale Vermarktung eines neuen Buches oder wichtiger Sachbeitrag – diese Frage stellt sich der nüchterne Betrachter, wenn man das Eintreten von Mojib Latif bei Markus Lanz für die sofortige Einführung eines Tempolimits verfolgt.
Politische Ziele können zu einem reinen Selbstzweck verkommen, wenn alle rechtfertigenden Gründe entfallen sind. Damit das ehemals kämpferische Ziel dennoch erhalten werden kann, stilisiert man es zum Allheilmittel in jeder neuen Krise – auch wenn man Zusammenhänge, globale Betrachtung und bessere Alternativen schuldig bleibt.
So wird aus einem Sicherheitsargument ein Klimaargument, aus einem Klimaargument ein Sanktionsargument, aus einem Sanktionsargument ein Preisargument, aus einem Preisargument ein sozialpolitisches Argument, usw. Unter dem Strich muss immer nur das Allheilmittel Tempolimit stehen, egal wie einmal das Ausgangsargument gelautet hat.
Eine faktenbasierte Sachdiskussion ist etwas anderes, aber wer politische Ziele verkaufen will, muss heute eine mitreißend persönlich berührende Geschichte erzählen können. Die Geschichte ist wichtig, wer benötigt noch Fakten, wenn doch alles Fake News sein könnten.
Handelsblatt 2019: Was Stauforscher, Klimaschützer und Unfallforscher zum Tempolimit sagen
Die erste Ölkrise in den 70ziger Jahren und die Veröffentlichungen des Club of Rome – Die Grenzen des Wachstums, 1972, ISBN 3-421-02633-5 – haben nicht nach einem Allheilmittel gesucht, sondern im Rahmen einer globalen Nachhaltigkeit kreative Lösungen herausgefordert und den regionale Tunnelblick verlassen.
Als einige Jahre später immer mehr Öl- und Gasvorkommen weltweit entdeckt wurden, veränderte sich die Politik des Energiesparens wieder hin zur Politik der Energieverschwendung mit günstigen fossilen Energieträgern. Solar und Wasserstoff waren zu teuer und Forschungsprojekte politisch kurzfristig nicht öffentlichkeitswirksam genug.
„Benzin-Gutscheine für die Urlaubsreise? Vor 40 Jahren wurde das ein Thema, nachdem die OPEC am Ölhahn gedreht hatte. Die Ölkrise führte zu neuen Spritsparmodellen. Selbst bei sportlichen Marken wie BMW und Porsche wurden Verbrauchswerte plötzlich wichtig.
Über Nacht wurde alles anders. Statt immer schneller mussten Autos über Nacht in erster Linie sparsamer sein. Auslöser war die Vereinigung Erdöl exportierender Länder (OPEC), die im Herbst 1973 den Energiehahn zudrehte und damit eine Vollbremsung der Automobilindustrie auslöste.“
Heute – über 45 Jahre später, reagieren wir auf Klimakrise und Ölpreissprünge im Wesentlichen mit Tempolimit und dem Verweis auf künftige E-Autos – unabhängig von Gewicht, Größe und Ressourcenverbrauch? Warum die Autos immer größer und schwerer werden, scheint niemand diskutieren zu wollen – auch wenn jede Menge Primärenergieeinsatz gespart werden könnte.
Bereits 2019 stellt der ADAC fest:
Fast jeder dritte Autokäufer greift mittlerweile zu einem SUV statt zum flachen Standardmodell.
- SUV sind fast immer schwerer als das vergleichbare Standardmodell.
- Kosten sind bei einem SUV bis zu einem Viertel höher.
- Meist haben SUV mehr Platz, aber auch einen höheren Verbrauch.
- Die größere Stirnfläche und das höhere Gewicht eines SUV wirken sich negativ auf den Verbrauch und damit auch auf den CO₂-Ausstoß Kommt noch Allradantrieb hinzu, kann der Verbrauchsaufschlag bei bis zu einem Drittel liegen. Das gilt auch für Elektroautos.
Mehr Infografiken finden Sie bei Statista
SUV-Anteil erreicht 2021 neuen Rekordwert – Statista 23.05.2022
„Im vergangenen Jahr ist der Anteil von Sport Utility Vehicles (SUV) an allen Neuzulassungen laut Kraftfahrt-Bundesamt auf 25,4 Prozent gestiegen – das entspricht einem Plus von über vier Prozentpunkten.“
Unabhängig von der Größe und dem Gewicht von Fahrzeugen, lohnt es einmal auf Vergleichswerte möglicher CO2-Einsparungen zu schauen.
Klimawandel: Die wichtigsten CO2-Fakten visualisiert
Die Befürworter eines Tempolimits wollen ca. 1,9 Mio t CO2 damit einsparen. Argumentiert wird, daß auf den Verkehrssektor 165 Mio t CO2 jährlich als Emission entfallen, und der Verkehrssektor seinen Beitrag zum Klimakiller deutlich reduzieren könnten. Aber ein Tempolimit würde also aus 165 Mio t CO2 jährlich 163,1 Mio t CO2 machen, d.h. eine Reduktion im Verkehrssektor um 1,15% maximal herbeiführen. Der Verkehr bliebe der 3. größte Emittent von CO2. Bezogen auf die Gesamtemissionen sind es 0,005 %. Mit diesen Zahlen kann man kein Tempolimit begründen.
Nimmt man Bezug auf andere Vergleichswerte – die hier nur beispielhaft erwähnt werden, dann ergibt sich ein Bild, an welchen Stellschrauben man zum Klimaschutz und zur Reduktion fossiler Energieträger wirklich drehen sollte.
Der französische Thinktanks „Shift Project“ hat eine Studie mit erschreckenden Zahlen herausgebracht. Video-Streaming haben allein 2018 mehr als 300 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente verursacht. Das entspreche der Menge, die das gesamte Land Spanien in einem Jahr ausstößt. (Quelle: https://utopia.de/ratgeber/streaming-dienste-klima-netflix-co2/).
Zahl ist weiter steigend.
„Die geringste CO2-Belastung entsteht, wenn das HD-Video bis nach Hause über einen Glasfaser-Anschluss gestreamt wird, mit lediglich zwei Gramm CO2 je Stunde Video-Streaming für Rechenzentrum und Datenübertragung. Bei Kupferkabel (VDSL) sind es vier Gramm. Bei einer Datenübertagung mit UMTS (3G) sind es hingegen 90 Gramm CO2 pro Stunde. Erfolgt die Datenübertragung stattdessen mit 5G Übertragungstechnik werden nur etwa fünf Gramm CO2 je Stunde emittiert. Nicht berücksichtigt wird bei dieser Berechnung der Stromverbrauch des Endgeräts.“ (Quelle Bundesumweltamt: https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/video-streaming-art-der-datenuebertragung).
Zum Thema Climate Change veröffentlichte das Bundesumweltamt 2019 eine Studie, deren konsequente Umsetzung die gegenwärtige Energiesituation bereits entspannt hätte. Einige Schlußfolgerungen aus der Studie: Roadmap Gas für die Energiewende – Nachhaltiger Klimabeitrag des Gassektors
„Im Rahmen der internationalen Klimaschutzbemühungen strebt die Bundesrepublik Deutschland eine Reduktion des nationalen Ausstoßes an Treibhausgasen (THG) bis zum Jahr 2050 um 80 bis 95 % an. Zu beachten ist dabei, dass es sich bei einer Reduktion um 80 % nur um ein Zwischenziel handeln kann. Denn in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts sieht das maßgebliche Pariser Klimaabkommen Netto-Nullemissionen vor, d.h. es dürfen global nicht mehr THG-Emissionen ausgestoßen werden als Kohlenstoff durch Senken gespeichert werden kann. Für das Energiesystem bedeutet dies, dass langfristig eine vollständige Vermeidung fossiler CO2-Emissionen notwendig ist. Hohe Bedeutung kommt dabei einer Elektrifizierung von Energieanwendungen zu, wobei in den Sektoren Industrie und Verkehr eine vollständige Deckung des Energiebedarfs durch Elektrizität auch im Falle einer deutlichen Verbrauchsreduktion nicht möglich ist (Umweltbundesamt 2014). Für die bei einem kosteneffizienten und versorgungssicheren Umbau des Energiesystems noch verbleibenden Bedarfe an Brenn- und Kraftstoffen können gasförmige Energieträger weiterhin eine Rolle spielen, wenn sie aus erneuerbaren Quellen stammen, insbesondere biogene Gase sowie über Elektrolyse und Methanisierung hergestellte synthetische Gase (E-Wasserstoff und E-Methan);“ S. 18 der Studie des Bundesumweltamtes.
„Wasserstoffnetze und -beimischung: Welche Rolle Wasserstoff künftig im Gesamtsystem spielen soll, ist noch weitgehend unklar. Weder ist geklärt, inwieweit eine erhöhte Beimischung von Wasserstoff in die bestehenden Gasnetze angestrebt werden soll, noch ob und in welchem Umfang Wasserstoffnetze durch Neuaufbau oder Umwidmung bestehender Netze benötigt werden (vgl. Kapitel 5.3.3). Da sowohl eine erhöhte Beimischung als auch Neuaufbau und Umwidmung von Netzen in substantiellem Umfang enorme Transformationsbedarfe mit sich bringen, ziehen sie sich potenziell über Jahrzehnte hin. Diesbezüglich ist auf politischer Ebene die Eintwicklung einer Wasserstoffstrategie bzgl. Beimischung und Netzaufbau von Nöten, welche insbesondere klare Leitplanken für die angestrebte Form der Wasserstoffnutzung vorgibt (vgl. Kapitel 6.3.4).
Erneuerbare Gase: Bei sehr ambitionierten Klimaschutzpfaden (> 90 % THG-Minderung) werden in bestimmten Anwendungsfeldern erneuerbare Gase (E-Methan und/oder E-Wasserstoff) benötigt (vgl. Kapitel 2.2). Sollen diese in großem Umfang eingesetzt werden, tritt bei E-Methan das Problem auf, dass CO2 aus biogenen und nicht vermeidbaren industriellen Quellen nicht ausreichend zur Verfügung steht. Daher ist es diesbezüglich wichtig, die CO2-Bereitstellung aus der Luft zur vollständigen Marktreife unterstützend zu begleiten. Weiterhin stellt sich generell, dass Problem, dass für die Herstellung von erneuerbaren Gasen enorme Mengen an EE-Strom benötigt werden, welche heimisch kaum in akzeptabler Weise zu decken sind. Entsprechend sind mittelfristig Importwege für erneuerbare Gase und/oder EE-Strom zu erschließen, was es auch politisch vorzubereiten gilt (vgl. Kapitel 6.3);“ S. 207 der Studie des Bundesumweltamtes.
RWE-Braunkohlenkraftwerke bleiben Klimakiller Nr. 1 in NRW – Das Kraftwerk Neurath ist mit 18,67 Mio. Jahrestonnen CO2 Deutschlands Klimakiller Nummer 1. (Quelle: https://www.bund-nrw.de/themen/braunkohle/hintergruende-und-publikationen/braunkohlenkraftwerke/)
Bezogen auf das Tempolimit und die mögliche Reduktion von CO2 um jährlich 1,9 Mio t heißt das: Wenn morgen das Kraftwerk Neurath abgeschaltet würde, dann hätte dies für die CO2 Bilanz einen 9 Mal größeren Effekt, als das Tempolimit.
Worüber reden wir also bei Tempolimit – nur über eine alte Ideologie, die ihren Sinnzusammenhang längst verloren hat.
Wer heute etwas für das Klima tun will, muß nur all die guten Vorschläge und wissenschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahren zu Wasserstoff, Sonnenenergie und Transmutation aufgreifen und fördern.
Klimaschutz ist das Zulassen von Kreativität und staatlicher Förderung jenseits reiner Steuereinnahmensicherung, denn:
- Warum verzichtet man nicht auf die Grunderwerbssteuer zugunsten einer Solaranlagenpflicht auf dem Dach?
- Warum ist der Einbau einer Wärmepumpe nicht 100% von der Einkommenssteuer absetzbar?
- Warum treibt man nicht den Glasfaserausbau seit Jahren voran, obwohl Energieeinsparung und Datengeschwindigkeit nachhaltig sind?
Wer ein Tempolimit fordert, lenkt von den Klimafragen dieser Zeit ab und blockiert den Blick auf echte Veränderungspotentiale durch das Schaffen einer Ausrede: Hätten wir ein Tempolimit, wäre alles besser!?!