Es war einmal ein Bundesverfassungsgericht…

Es war einmal ein Bundesverfassungsgericht…

BVerfG
Bundesverfassungsgericht zur Corona-Bundesnotbremse 2021

 

 
 
 

 Verfassungsbeschwerden betreffend Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite („Bundesnotbremse“), sowie Schulschließungen erfolglos

legal 1st Kommentar: 
 

Das Bundesverfassungsgericht hatte in Europa Leuchtturm-Charakter, weil es viele jahrzehntelang ein Bollwerk gegen einen kompetenzansaugenden Staat zulasten der Freiheit seiner Bürger war.

Das Gericht nahm seine Aufgabe als Verfassungshüter sehr ernst, verteidigte seine politische Unabhängigkeit und scheute keine Auseinandersetzung oder konsequente Vorgabe von verfassungsrechtlichen Leitlinien, wenn es um die Verteidigung und Gewährleistung von Freiheits- und Gleichheitsrechten der Bürger ging.

Art. 5 GG – die Gewährleistung von Meinungs- und Informationsfreiheit durch die dienende Funktion der Medien wurde durch das Gericht ausgestaltet. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs.1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 GG wurde als Grundrecht anerkannt und in seinen Teilgewährleistungen an die Veränderungen in Technik und Gesellschaft ausgestaltet.

Die Auseinandersetzungen des Gerichts mit der Eigenart des Elternrechts aus Art. 6 GG waren wegweisend für die Familie. Die Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“ in Verbindung mit der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG prägt bis heute das Datenschutzrecht, und die verfassungsrechtliche Funktion des Eigentums aus Art.14 GG bildet mit Ausführungen zur Inhalts- und Schrankenbestimmung die Grundlage der Wirtschaftsordnung.

Aber das Gericht, das gerne bei Feierlichkeiten erscheint und sich empfangen läßt, ist nicht mehr das Gericht der großen Entscheidungen, das eine funktionsorientierte Dynamisierung der Freiheitsrechte vertritt und ausgestaltend prägt. Sonst wäre die Entscheidung zur „Bundesnotbremse“ kein inhaltliches „Versteckspiel“ hinter Expertenmeinungen geworden, und das Ausstellen eines Freibriefes für Politiker bei großen Gefahren für Leben und Gesundheit, solange dies nur tragfähig begründet wird.

Zitat aus der Pressemitteilung – Punkt 5: „Hier war die Entscheidung des Gesetzgebers für die angegriffenen Maßnahmen in der konkreten Situation der Pandemie und nach den auch in diesem Verfahren durch die sachkundigen Dritten bestätigten Erkenntnissen zu den Wirkungen der Maßnahmen und zu den großen Gefahren für Leben und Gesundheit tragfähig begründet und mit dem Grundgesetz vereinbar.“

Wer gehofft hat, jenseits des Erfolgs der Verfassungsbeschwerden, verfassungsrechtliche Leitlinien für handelnde Politiker und Verwaltungen zu finden, die sich an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne orientieren, sieht sich enttäuscht.

Das Gericht hat eine große Chance und Verpflichtung als Verfassungshüter vertan, und die Hoffnung vieler Menschen auf Ordnung im „Hühnerhaufen“ sich täglich überschlagender und vermarktender Politiker und Experten enttäuscht.

Fortgesetzt wird eine Linie des Abwartens, Aussitzens und Erledigen durch Zeitablauf, indem man weder Positionen noch Grenzen formuliert. Entscheidungen mit europarechtlichem Bezug wie ESM oder EZB liegen auf dieser Linie. Hat das Gericht seine innere Unabhängigkeit verloren?

Wenn man die Entscheidung zur Wahl von Bundesrichtern anschaut mit den Folgen in den Bundesländern, muß man dies feststellen.

Weniger Politik ist mehr Unabhängigkeit, und unabhängige Institutionen garantieren das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat.

Mit den nachfolgenden Zitaten aus den Pressemitteilungen des Bundesverfassungsgerichts vom 30.11.2021 zur Bundesnotbremse soll dargestellt werden, daß es nicht um das Ergebnis der Verfassungsbeschwerden geht, sondern um die Art und Weise der Argumentation des Gerichts zu den Beschwerden.

 

„Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). Der Schutzbereich dieses Rechts umfasst, soweit es nicht um die berufsbezogene Ausbildung geht, die Schulbildung als Ganze, also sowohl die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten wie auch Allgemeinbildung und schulische Erziehung. Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung von Schule. Dem Anspruch auf einen Mindeststandard schulischer Bildungsleistungen können zwar ausnahmsweise überwiegende Gründe des Schutzes von Verfassungsrechtsgütern entgegenstehen, nicht jedoch die staatliche Entscheidungsfreiheit bei der Verwendung knapper öffentlicher Mittel.“

 

„3. Das Verbot von Präsenzunterricht war zum Schutz der Bevölkerung vor infektionsbedingten Gefahren von Leib und Leben und zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems auch erforderlich.

Das wäre nur dann nicht der Fall gewesen, wenn eindeutig festgestellt werden könnte, dass Infektionen durch die weniger belastende Alternative geöffneter Schulen mit regelmäßigen Tests und Hygienemaßnahmen mindestens gleich wirksam hätten bekämpft werden können wie durch ein Verbot von Präsenzunterricht. Die wissenschaftliche Erkenntnislage hierzu ist jedoch durch Unsicherheit geprägt. Zwar hat einer der sachkundigen Dritten in diesem Verfahren eine entsprechende Einschätzung abgegeben. Sie wird so von den übrigen Sachkundigen indes nicht geteilt. Mehrere sachkundige Dritte haben angemerkt, dass eine fundierte fachwissenschaftliche Bewertung nicht möglich sei, weil noch keine Daten zur Wirksamkeit der verschiedenen, bisher an Schulen ergriffenen Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung erhoben und ausgewertet worden seien. Dementsprechend sind deren Aussagen zur Wirksamkeit der beiden Alternativen auch eher vage. Ein Sachkundiger vertritt die Auffassung, das Infektionsgeschehen könne jedenfalls mit Antigen-Schnelltests in Schulen nicht gleich wirksam eingedämmt werden und flächendeckende PCR-Tests seien aus Kapazitätsgründen nicht möglich.“

„aa) Das Gesetz gab nicht einseitig nur dem Gemeinwohlbelang Vorrang. Dem besonderen Gewicht des Präsenzunterrichts für die Vermittlung schulischer Bildung als einer Grundbedingung für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten wurde dadurch Rechnung getragen, dass die Schulen – anders als andere Kontaktorte – nicht bereits bei Überschreiten einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100, sondern erst ab einem Wert von 165 geschlossen waren. Die Eingriffsintensität des Verbots von Präsenzunterricht wurde weiter dadurch gemindert, dass es den Ländern freistand, die Abschlussklassen und die Förderschulen hiervon auszunehmen. Darüber hinaus konnten die Länder eine Notbetreuung auch zu dem Zweck einrichten, denjenigen Schülern die Teilnahme am Distanzunterricht zu ermöglichen, die zuhause über keine geeignete Lernumgebung verfügten.

bb) Für die Zumutbarkeit der Schulschließungen ist von maßgeblicher Bedeutung, dass die ersatzweise Durchführung von Distanzunterricht im Grundsatz gewährleistet war.“

„Ein bei der Beurteilung der Zumutbarkeit des Verbots von Präsenzunterricht durchschlagendes Versäumnis des Staates bei der Erkenntnisgewinnung kann hier nicht festgestellt werden. Zwar dauerte die Gefahrenlage bei Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ im April 2021 bereits über ein Jahr an und es hätten erste Möglichkeiten bestanden, Daten an den Schulen zu erheben, aus denen möglicherweise Erkenntnisse für eine freiheitsschonendere Bekämpfung von Infektionen in diesem Bereich hätten gewonnen werden können.“

Hier liegt nicht auf der Hand, dass bereits bis zum April 2021 an den Schulen flächendeckend Vorkehrungen hätten getroffen werden können, um Schulschließungen möglichst zu verhindern. In Betracht kommende Vorkehrungen wie eine Verbesserung der Lüftungsverhältnisse in den Klassenzimmern oder die Eröffnung von Optionen für die Nutzung größerer Räume zur Einhaltung von Abständen bedürfen mehr oder weniger aufwendiger Abstimmung, Planung und Umsetzung. Das gleiche gilt für die sich aufdrängende verstärkte Digitalisierung des Schulbetriebs und die Entwicklung darauf bezogener pädagogischer Konzepte, um Bildungsverluste infolge wegfallenden Präsenzunterrichts durch einen nach Umfang und Qualität verbesserten Digitalunterricht möglichst weitgehend vermeiden zu können.“

„Um Eltern, die wegen der Betreuung ihrer Kinder nicht arbeiten konnten, gegen Einkommenseinbußen abzusichern, konnten erwerbstätige Eltern zudem nach § 56 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 IfSG eine staatliche Entschädigung erhalten, wenn sie von Schulschließungen aufgrund der „Bundesnotbremse“ betroffen waren.“

„Wiederum gilt zwar, dass bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen dürfen. Erfolgt wie hier der Eingriff aber zum Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und ist es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, ist die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt. Das schließt die Prüfung ein, ob die gesetzgeberische Prognose hinreichend verlässlich ist.“

„Die Kontaktbeschränkungen waren auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Das setzt voraus, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen.“

„Dies beruhte auf der hinreichend tragfähigen Annahme, dass der Virusübertragung und Ansteckung in Innenräumen zwar durch Schutzmaßnahmen wie dem Abstandhalten, dem Tragen von Masken, Lüften und allgemeiner Hygieneregeln entgegengewirkt werden kann, dass dies aber zur Abend- und Nachtzeit und im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar ist. Dass der Gesetzgeber sich dafür entschied, solche Zusammenkünfte von vornherein über vergleichsweise einfach zu kontrollierende Ausgangsbeschränkungen zu reduzieren, war angesichts der bestehenden Erkenntnislage verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“

 

 

Diese kritiklose Rechtfertigung politischen Handelns aus Angst vor Unsicherheiten ist schlicht zu wenig,

 
 
 

 

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